Publikationen

Psychosomatik in der Orthopädie

Psychosomatik in der Orthopädie

Psychosomatik und funktionelle Orthopädie
aus dem Arbeitskreis für Psycho-Orthopädie der Klinik für Manuelle Therapie in Hamm.
Klaus Helling

Auf der Fachtagung zum Thema: „Psychosomatik der Wirbelsäule“ spreche ich als Vertreter einer Klinik, die sich primär mit der somatischen Seite der Beschwerden des Bewegungssystems beschäftigt und sich selbst als funktionelle oder konservative Orthopädie bezeichnet. Die Klinik wurde 1963 gegründet mit dem Auftrag, manuelle Therapie oder Chirotherapie unter klinischen Bedingungen zu erproben und zu erforschen. So hat sich die Klinik im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte mit den verschiedenen Strömungen der manuellen Therapie auseinander gesetzt. Neben den funktionell orthopädischen Methoden haben sowohl die Rheumatologie als auch die Reflextherapie entscheidende Bedeutung für das therapeutische Konzept und seit 1981 kamen psychotherapeutische Verfahren, besonders körperorientierte psychotherapeutische Verfahren dazu.

Ich will zu Anfang dieses Referates noch eine Trennung zwischen somatischer, psychischer und psychosomatischer Medizin ziehen. Im somatischen Bereich arbeiten wir mit manualtherapeutischen Techniken im medizinisch schulmäßigen Sinne, wie von der DGMM gelehrt, aber auch mit moderneren Verfahren,

wie Muskelenergietechniken,
Kraniosakraler Therapie,
postisometrischen Muskelrelaxationen,
Facillationstechniken und
Myofascial Release.

In unserem Haus werden verschiedene krankengymnastische Schulen vereint, außerdem ist ein ausgebreitetes physiotherapeutisches Angebot vorhanden, das gesamte Spektrum der Lokal- und therapeutischen Leitungsanaesthesie, der Neuraltherapie, der Körperakupunktur, aber auch der Aurikulotherapie nach NOGIER & BAHR.

Im psychotherapeutischen Bereich werden Einzel- und Gruppentherapie angeboten, tiefenpsychologisch fundierte Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie, Gestalttherapie und progressive Muskelentspannung nach JACOBSEN. Einige Kollegen verfügen über Erfahrungen mit Bioenergetik. Das größte Problem in den letzten Jahren war es, die verschiedenen Ansätze zu integrieren und auch den Mitarbeitern der Klinik ausreichend verständlich zu machen.

Die Patienten der Klinik haben im Durchschnitt seit 8 und mehr Jahren Beschwerden und sind nur zu einem kleineren Prozentsatz von ca. 15-20% sogenannte Akutpatienten, die, soweit wir sie nicht über unsere Ambulanzen behandeln können, als Akutfälle aufgenommen werden.

Als Manualtherapeuten wissen wir seit Jahrzehnten, daß orthopädische Krankheitsbilder nicht durch statische oder biomechanische Befunde allein erklärt werden können. Somit tragen auch die Routineverfahren, wie Röntgen, Computertomogramm, Kernspintomogramm und Szintigraphie, in vielen Fällen nichts wesentliches zur Diagnostik bei, sondern bilden häufig nur ein unzureichendes auf Röntgenbefunde beruhendes Erklärungsgerüst für einen letztendlich ungeklärten Schmerz des Patienten.

Diese Divergenz, hier die Schmerzäußerung des Patienten, da das organisch begründete Erklärungsmodell von Seiten des Orthopäden, macht häufig das für den Patienten tragische Mißverständnis dieser medizinischen Disziplinen aus. Wie wir seit Jahren durch die Schmerzforschung wissen, können Schmerz und körperlicher Defekt zwei völlig verschiedene Dinge sein.

Es kommt zu den widersprüchlichsten Interpretationen, so daß wir häufig junge Menschen untersuchen, deren Schmerz mit Verschleiß erklärt wurde, „mit dem sie zu leben hätten“, und kurze Zeit später Patienten mit ausgeprägt degenerativen Veränderungen, denen man in Rentenoder
Unfallgutachten „natürlichen Verschleiß ohne pathologische Bedeutung attestiert hatte“.

Durch diese Widersprüchlichkeiten, die chronische Schmerzpatienten häufig, erfahren haben, sind bereits die ersten Irritationen zwischen Patient und Arzt in den Therapieerfahrungen entstanden.
Darüber hinaus muß neben diesem generellen Mißverständnis, – der Patient meint Schmerz, der Arzt die vermeintliche Ursache-, bedacht werden, daß in orthopädischen Praxen und Kliniken die Untersuchungen der Patienten kaum mehr als 5 Minuten dauern und damit völlig unzureichend sind.

Ein anderer Zeitraum ist bei ca. 150 Patienten täglich nicht möglich. So wird das Vertrauen des Patienten in seinen Arzt getrübt und mit Recht wird auch vielen orthopädischen Diagnosen mißtraut.

Diese Irritationen erschüttern viele Schmerzpatienten spätestens dann, wenn sie nach einiger Zeit der Therapieresistenz neurologisch-psychiatrischen Kollegen vorgestellt werden. Dann passiert häufig, was ein Patient so benannte: „Mir wurde nach 15 Minuten Gespräch gesagt, wer ich bin,
wo mein Problem liegt, was ich zu tun habe und dann wurde ich mit einem Rezept über drei Medikamente entlassen, die mich nur müde machten“.

Wer sich in diesen, etwas verkürzten Werdegang des chronischen Schmerzpatienten eindenkt, kann verstehen, warum der Schmerzpatient in der Regel auch ein mißtrauischer, verunsicherter,
ängstlicher und letztendlich auch durch uns Ärzte zutiefst gekränkter Mensch ist, dessen Grundverletzung wir so möglicherweise unbewußt immer wieder auffrischen und vertiefen.

Nun zurück zu unserem Thema.

Psychosomatik der Wirbelsäulenerkrankung

Wir haben in unserem Arbeitskreis verglichen, was verschiedene Schulen lehren und wie sie den Begriff Psychosomatik definieren. Es gibt keine Einheitlichkeit und letztendlich keine ausreichende Definition. Auffallend war jedoch, daß Psychosomatik oft heißt, und ich sage das nicht abwertend, sondern nur mit einem gewissen Bedauern, daß fast aus- schließlich psychotherapeutisch behandelt wird.

Man geht davon aus, daß organisch nichts oder nichts mehr diagnostiziert werden kann und somatische Verfahren versucht und erfolglos abgebrochen wurden. Diese Beobachtung wurde sowohl durch die Schilderung des Leidensweges vieler Patienten als auch durch Auswertung von 30 Fragebögen, an verschiedene psychosomatische Einrichtungen im Bundesgebiet bestätigt.
Hier muß man zu der Erkenntnis kommen, daß in vielen psychosomatischen Häusern mit dem Wort Psychosomatik der Teil – „Somatik“ – sehr klein geschrieben wird. Eine Tatsache, die ich nicht gutheißen kann.

Als äußerst störend empfinde ich bei der Behandlung psychosomatischer Patienten die Reihenfolge der Behandlungen. Es kristallisierte sich bei einer Umfrage eine deutliche Priorität der Methoden heraus. Bei vielen Kollegen sieht es so aus, als ob eine somatische Therapie für den Patienten ehrenhafter und zumutbarer ist, bevor man ihn – und da zitiere ich einen Kollegen – „mit dem Stigma des psychisch kranken Patienten belastet“ . Psychotherapie wird „gnädig‘ bis zuletzt zurückgehalten, dafür aber somatische Therapien bis hin zu heroischen chirurgischen Eingriffen zugemutet.

Psychotherapie kommt zwangsläufig irgendwann auf den sogenannten „Problempatienten“ zu. Die Bezeichnung „Problempatient“ – ich sage das etwas ironisch – heißt oft, daß es der Arzt ist, der die Probleme mit dem Patienten hat und letztlich beschließt, sein Problem bzw. seine Frustration, beim Patienten psychotherapieren zu lassen.

Warum nicht frühzeitiger Einsatz von Psychotherapie? Ich denke, daß neben Gründen der Praktikabilität besonders auch Probleme der Ärzte mit der Psyche hinderlich im Wege stehen. Ärzte, mit einer im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich gesenkten Lebenserwartung, setzen als typische Psychosomatiker sich selbst auf die sogenannte gesunde Seite und werden mangels Selbsterfahrung und Bewußtsein im Umgang mit den eigenen Konflikten, Überlastungen und Ängsten für diese Seite der Medizin sozusagen betriebsblind sein. Psychotherapie oder psychosomatische Behandlung findet erst statt, nachdem keine somatische Diagnose gestellt werden kann oder keine genügende somatische Begründung gefunden wird oder alle somatischen Therapien und Aktivitäten erfolglos bleiben: Hier fällt eine große Hilflosigkeit in der Orthopädie
auf! Aber leider auch sehr wenig Wille nach wirklichem Verstehen und Erfassen der krankmachenden Hintergründe. Oft will man von orthopädischer Seite, wenn man sich schon mit der Psyche beschäftigen muß, reine Kochrezepte anstatt Verständnis.

Denn Verständnis setzt mehr Wissen voraus, aber das Wissen gehört in die andere Disziplin, in die der Psychotherapie. So überraschen Fragen nicht, wie ich sie auf Neuroorthopädie-Kongressen immer wieder höre – zum Beispiel: „Wenn bei ausreichender Therapie noch Schmerz nach 3 Monaten besteht, kann man dann sagen, daß das psychisch ist und Psychopharmaka geben?“ Oder – wenn ich den Rat eines bekannten orthopädischen Gutachters höre: „Richtige“ – ich wiederhole – „richtige Krankheiten sprechen oft auf Analgetika an, die anderen auf Psychopharmaka“. Solche Ratschläge werden als Testhilfe mitgegeben, für meine Begriffe mit verheerenden Folgen.

Und meint der Kollege wirklich die Krankheit, die er mit Analgetika oder Psychopharmaka verändert oder nur verschiedene Wege, die Einfluß nehmen auf den neurophysiologischen Weg der Schmerzentstehung vom Defekt zum Bewußtsein?

Und was heißt Psychotherapie bei Fehlen somatischer Befunde und (oder) therapie-resistentem Verhalten? Gibt es das überhaupt, den fehlenden somatischen Befund? Oder ist der fehlende somatische Befund nur Ausdruck eines zu groben Untersuchungsrasters und mangelnder Zeit und unzureichender Ausbildung?

Geht man diesen Gedanken nach mit den Möglichkeiten der modernen Möglichkeiten Orthopädie – besonders der manuellen Therapie und Reflexdiagnostik, wird man sehr schnell erkennen, dass die üblichen Untersuchungen völlig unzureichend sind. Röntgen, Computertomogramm, Kernspintomogramm und die apparativen Diagnostiken ersetzen keine Untersuchung. Sie sind allenfalls Mosaiksteine in dem Gesamtbild des erkrankten menschlichen Organismus. Eine gründliche körperliche Untersuchung findet häufig nicht statt und führt fast immer zu pathologischem Befund.

Wir sind überrascht, wie viele Patienten irritiert sind, wenn wir sie bitten, sich für eine Untersuchung bis auf die Unterwäsche frei zu machen, und wenn die Patienten nach einer Untersuchung sagen, dass man sie so noch nie angeschaut hätte. Was wir dann aber „sehen“, ist nicht nur Statik und Mechanik, ist nicht nur Bewegungsapparat – um dieses Wort zu benutzen, der Mensch ist kein Apparat, kein Baukasten, bei dem stabilisiert und Gelenke geschmiert werden.

Was ich sehe, ist Haltung im biomechanischen Sinne, aber auch im psychomotorischen Sinne, als emotionaler Ausdruck. Ich sehe und fühle als Manualtherapeut gestörte Segmente der Wirbelsäule, gestörte Rippenfunktionen, verspannte, verkürzte und schmerzhafte Muskulatur, Triggerpunkte, verspanntes Bindegewebe, gestörte Funktionen, vegetative Fehlsteuerung. Ich kann diesen Befund monoman manualtherapeutisch als segmentale Störung der Wirbelsäule mit reflektorischer Muskelfehlsteuerung und vegetativer Dysbalance werten, aber auch als zwangsläufige Folge der zum Beispiel ständig verspannten Schultern oder der vielleicht angstvollen Hochatmung interpretieren.

So kann ich den emotionalen Ausdruck häufig auch dem Patienten nachfühlbar und nachvollziehbar machen. Ich sehe die Bewegungsabläufe des Patienten, sein Bewegungsmuster und die Bewegungsrhythmen, die seinen statischen Ausdruck eventuell verstärken und versuche auch hier sowohl den somatisch biomechanischen als auch den psychomotorisch emotionalen Ausdruck zu erfassen.

Ich habe als Somatiker oder sollte ich sagen Psychosomatiker oder Somatopsychlker die Chance, die vielen psychotherapeutischen Kollegen nicht in dieser Deutlichkeit gegeben ist. Ich kann mit dem Patienten auf einer averbalen Ebene kommunizieen. Ich kann Dinge erfahren, die ich vielleicht viel später erst zu hören bekäme. Ich versuche, seine Antworten wahrzunehmen, wenn ich ihn untersuche, seine Reaktionen auf meine Blicke, auf meine Stellung im Raum vor ihm oder hinter seinem Rücken, seine Antworten auf meine Berührung, seien sie vegetativ vasaler Art mit Schwitzen und roten Flecken, oder muskulärer Art mit Verspannung bis zur Erstarrung. Vielleicht auch seine Unfähigkeit, sich bei der Untersuchung zu entspannen, wenn ich hinter ihm stehe, während er die Untersuchung zulassen kann, wenn ich vor oder neben ihm stehe (z.B. bei einem Patienten, der von hinten überfallen wurde).

Ich sehe seine Flucht-, Angst- und Schmerzäußerung, ohne Berührung oder wenn ich ihn berühre, seine Reaktion bei aktiver und passiver Bewegung. Sind diese Beobachtungen im somatischen Sinne nichts wert? Sind selbst massive vegetative‘ Fehlsteuerungen kein Befund? Passen sie nicht ins orthopädisch mechanische Diagnoseraster des Bewegungsapparates einer Orthopädie, in das funktionelles Denken häufig noch sehr schwach entwickelt ist und operative Schwerpunkte dominieren? Wissen wir nicht, daß Funktion Form macht und Form Funktion, dass irgendwann persistierende funktionelle Störungen eventuell massive morphologische Veränderungen produzieren werden? Soll erst dann ein somatischer Befund existieren, wenn er irreversibel ist?

Diese, für meine Begriffe auch somatischen, aber funktionell somatischen, über das vegetative Nervensystem oder psychomotorisch ausgedrückten Befunde, entgehen zu oft den Orthopäden, dem psychotherapeutisch tätigen Arzt und leider auch dem Psychosomatiker.

Andere Schmerzketten, die nicht über die Motorik, sondern über viscero vertebrale Reflexe und Heads’che Zonen Schmerzen provozieren, sind zu wenig bekannt. Es muss nicht immer, nur weil es so schön logisch ist, „im Nacken sitzen“ und „auf den Schultern lasten“, es muss nicht immer die psychomotorische Blockierung eines Bewegungs- oder eines Handlungsvollzuges sein. Häufig ist das psychosomatische Bezugsorgan in ganz anderen Organbereichen zu suchen: Internistisch, gynäkologisch, urologisch usw..

Und dann wird die chronische Gastritis über Headsche Zonen ein therapieresistentes Schulter-Syndrom links produzieren, oder die Gallenblase eine schmerzhafte Schulter rechts. An dieser Stelle gehören neben orthopädisch-psychotherapeutischen auch internistisch-reflektorische Überlegungen und Therapieansätze in die psychosomatische Behandlung des Bewegungssystems.

Wie findet die Behandlung statt? Zunächst einige selbstkritische Gedanken.

Wichtig ist auch hier nicht nur, was wir an dem Menschen therapieren, sondern vor allen Dingen wie wir es tun. Ich sagte oben bereits, der Mensch ist kein Apparat, an dem gefühllos, ohne Beachtung seines Abwehr- und Schmerzverhaltens hantiert werden darf. Viele unserer Patienten schildern mir ihre Untersuchungs- und Behandlungserfahrungen, besonders bei Gutachten-Untersuchungen, wie Strafaktionen, bei denen ihre Schmerzäußerungen nicht beachtet oder grob zurückgewiesen wurden. Sie fühlen sich nicht beachtet, unwichtig, ohne echte Zuwendung durch den Arzt, nicht einmal in den 2 bis 5 Minuten, die er für sie Zeit hatte.

Sie fühlen sich beschämt und in ihrer Würde verletzt, wenn bei den Krankenhaus-Visiten ohne Fragen um Erlaubnis vor dem Begleittroß der Chefvisite die Bettdecke zur Begutachtung des Operationserfolges weggezogen wird, erinnern sich schmerzhaft an diese Szenen, selbst wenn es Jahre zurück in der Kindheit passierte und erzählten mir dieses Vorgehen, oder sollte ich sagen „Vergehen“, als ihre schlimmste Erinnerung, schlimmer als die Operation und waren in ihrer Scham tief verletzt. „Ich hätte vor Scham in den Boden versinken können“ erzählte mir eine Patientin, als sie hinkend, schmerzgeplagt und halbnackt bei der Orthopädietechnik-Vorstellung, wie sie sagte „vortanzen mußte“ vor einem großen Gremium. Die Patienten fühlen sich entmündigt, wenn bei den Visiten an der Bettkante über sie, anstatt mit ihnen gesprochen wird,
schlecht informiert, ja sogar feindselig von den Ärzten behandelt, denen sie keine positive Meldung über die Therapieversuche rückmelden können. Und was sind die nur gröbsten, eigentlich unvorstellbaren, dennoch leider täglichen und völlig unnötigen Verletzungen, die in orthopädischen Behandlungen den Patienten angetan werden. Die Verhinderung solcher Verstöße sollte mehr ein Problem des menschlichen Taktes als des medizinischen Konzeptes sein.

Nun gibt es auch noch eine weitere Ebene, auf der die Patienten erneut von uns Ärzten verletzt werden, häufig unbewußt und mit den besten Vorsätzen, ihnen helfen zu wollen. Die körperliche Behandlung gerade in der funktionellen Orthopädie und manuellen Medizin und Krankengymnastik hat auch immer die Bedeutung einer Körperintervention im psychotherapeutischen Sinne.

Durch die verschiedenen Behandlungspraktiken und Berührungen kann das Leibgedächtnis aktiviert werden, alte Erinnerungen und Erlebnisse werden neu belebt. Dann fließen vielleicht plötzlich Tränen. In solchen Fällen mache ich den Patienten deutlich, daß mir seine Tränen nicht entgangen sind, tiefe, aber erst später und nicht in der für den Patienten vielleicht peinlichen, da oft halb bekleideten Behandlungssituation. Solche durch körperliche Behandlungen erweckte emotionale Regungen sind sehr häufig und werden auch von unseren Krankengymnasten und Masseuren beobachtet und bei den regelmäßigen Teamsitzungen an uns Ärzte und die Therapeuten weitergeleitet. Sie bilden wichtige Anstöße für die weitere Therapie im psychotherapeutischen Bereich, wie auch im Bereich der somatischen Ansätze.

Wichtig für eine auch psychosomatisch ausgerichtete Orthopädie ist es, daß alle Schwestern, Krankengymnasten, Masseure, Ärzte mit solchen Situationen umzugehen verstehen, den Patienten stützen und nicht durch Zurückweisen oder bloßes Zerreden beschämen.

Wichtig ist es auch, die Reaktion der Patienten auf die verschiedenen Behandlungen zu beobachten. Oft will man dem Patienten nur Gutes tun und weiche Behandlungen, wie Lymphmassagen, Fußreflexmassagen, Wärme usw. anwenden und hört, daß die Behandlung dem Patienten überhaupt nicht bekommt, er nicht entspannen kann und sich sein Zustand verschlechtert.

Fürchtet der Patient in dieser Entspannung, der Wärme, der sanften Berührung, die Fassung und Kontrolle zu verlieren, den Damm vor seinen Tränen nicht stabil halten zu können? Oft kommen durch die Berührung alte Erinnerungen hoch, das Leibgedächtnis wird aktiviert.

Hier wird es Zeit zu überdenken, warum der Patient diese Reaktionen zeigt und eventuell muß die Therapie geändert werden. Vielleicht ist der Masseur mit den guten Händen auch dem Mann sehr ähnlich, der dem kleinen Mädchen irgendwann Gewalt antat. Dann liegt ein Therapeutenwechsel an und man muß auch den Mitarbeitern klar machen, daß ein Therapeutenwechsel für den Patienten wichtig ist und keine Mißkreditierung vorliegt. Sonst entstehen Spannung und Aggression gegen den Patienten. Es ist auch wichtig, darauf zu achten, daß weiße Kleidung bei allen somatisch tätigen Behandlern ein Schutzschild bilden können und für eine medizinische Sterilität und Funktionalisierung gerade auf der psychischen Ebene sorgen können.

Neben der orthopädisch manualtherapeutischen Behandlung in seiner Doppelbedeutung als somatisch funktionelle Mobilisation und auch als Körperintervention im psychotherapeutischen Sinne gibt es aber noch einige
ige interessante Beobachtungen, die ich als Manualtherapeut Ihnen mitteilen möchte und die für mich mit die spannendsten psychosomatischen Beobachtungen der letzten Jahre sind. Besonders nach Behandlung der Kopfgelenke mit kraniosakraler Technik, aber auch mit anderen Technken, hatte ich den Eindruck, daß oft Wege zu emotionalen Hintergründen freigelegt werden, die durch somatische Befunde regelrecht verschüttet waren und dem Patienten schlagartig nach Lösung der somatisch funktionellen Läsion bewußt werden.

Ich habe das Gefühl, daß diese Phänoene nicht allein über die Kette Körperintervention und, wenn man so will, Einfluß auf das Leibgedächtnis im gestalttherapeutischen Sinne erklärbar sind. Ich möchte an eine= Beispiel deutlich machen, was häufig passiert: ‚Ein Patient mittleren Alters, selbst erfahrener Psychotherapeut, leidet seit langer Zeit unter einem Tinnitus. Er selbst hat sich den Tinnitus auf Grund von psychischer Belastung erklärt und sich selbst therapieren lassen, einschließlich körperorientierter Psychotherapie, Gestalttherapie und Bewegungstherapie. Im Hinblick auf die Therapie des Tinnitus bestand daher bei mir zunächst ziemliche Ratlosigkeit. In der manuellen Medizin wird bei Kopfgelenksstörungen zwar häufig als Symptom ein Tinnitus beschrieben, aber in der manualtherapeutischen Lite-ratur und auch nach unseren Erfahrungen liegen die Besserungschancen im Gegensatz zu Schwindel, Kopfschmerz, für den Tinnitus maximal bei 5 %, also im Bereich des Zufalls. Das gilt allerdings für Impulstechniken. Wir sehen Tinnitus nahezu immer im psychosomatischen Zusammenhang. Ich untersuchte den Patienten gründlich, auch mit der für uns noch sehr jungen kranio-sakralen Technik, stellte damit eine Blockierung des Os temporale und der Kondyle C 0/1 fest. Ich behandelte den Patienten mit kraniosakraler Technik, arbeitete mit minimalen Traktionen, die man im Prinzip einer zarten Körperintervention gleichsetzen kann.

Nach einer Behandlungsdauer von ca. 10 Minuten kam es bei dem Patienten zu einer schlagartigen Veränderung des pathologischen kranio-sakralen Rhythmus, es kam zu einer Harmonisierung, der Rhythmus hatte sich durch die Mobilisation normalisiert, es war zum sogenannten Re-lease gekommen. Gleichzeitig und wirklich auf die Sekunde seufzte der Patient tief, ihm traten Tränen in die Augen und auf meine Frage: „Wo sind Sie jetzt?“ kam seine Antwort: „Nicht mehr kämpfen! “ Der Tinnitus war für mehrere Stunden verschwunden, verstummt. Solche Phänomene werden von vielen kranio-sakralen Therapeuten in USA beschrieben, ohne daß danach eine psychologische Aufarbeitung vorgenommen wurde.

Wir diskutierten nachher über das, was vorgefallen war und der Patient drückte sein Unverständnis aus über das, was passiert war. Er sagte: „Ich kann das nicht verstehen! In der Therapie, aus der ich gerade komme, ist mein Kopf auch gehalten worden, aber ohne diesen Effekt! “ Ich denke, und wir konnten das bei anderen Fällen wiederum verfolgen, daß es eben nicht nur um die Körperintervention geht und haben eine andere Hypothese, an der wir z.Zt.
wissenschaftlich arbeiten. Möglicherweise wird das Emotionale wirklich in der gestörten Funktion festgehalten und verdeckt und erst durch die Behebung der pathologischen Läsion unmittelbar erinnerlich. Ähnliche Phänomene erleben wir auch bei den osteopathischen Zwerchfellmobilisationen.

Ich kenne die Kritik an der Orthopädie und manuellen Medizin von Seiten der
psychotherapeutisch ausgerichteten Ärzte. Sie sagen häufig, daß mit diesen Techniken die Patienten auf die somatische Ebene fixiert werden. Ich habe aber auch meine Kritik an den nur psychotherapeutisch ausgerichteten Ärzten, die in dem Irrglauben leben, somatisch sei alles getan und abgeklärt, somatisch sei nichts mehr zu machen. Es findet in zu vielen psychosomatischen
Kliniken kein Austausch der Beobachtung statt, es findet keine somatische Behandlung statt, sondern nur ein Konsiliar mit Orthopäden und Internisten, die aber die Beobachtungen, die vom Somatischen auch auf das Emotionale schließen lassen, nicht deuten können. Dadurch geht eine große Informationsquelle verloren. Die oben beschriebenen Beobachtungen werden in der Regel nie diagnostiziert, sondern allenfalls als vegetative Fehlsteuerung pauschal beschrieben und meistens nicht einmal das.

Ich weiß, daß das nicht die Norm ist, aber ich kenne auch die Patienten, die mit heftigen Kopfschmerzen bei Kopfgelenkblockierungen sich in psychotherapeutischen Sitzungen mit der Frage plagen, was sie von der Krankheit profitieren, was ihnen die Krankheit bringt, und die sich mit dieser Frage auseinandersetzen sollen.

Es gibt auch Patienten, die sich mit solchen funktionellen Störungen als zu Recht denkunfähig bezeichnen. Sie haben das Gefühl, ihr Kopf platze, das Gefühl, der Kopf sei leer, das Gefühl, er sei nicht durchblutet, wie abgeschnitten. Dazu kommen bei diesen Funktionsstörungen massive muskuläre und vegetative Störungen, häufig auch Schwindei, Ohrgeräusche, Sehstörungen, Konzentrationsstörungen, motorische Störungen. Dank der manualtherapeutischen und neurophysiologischen Grundlagenforschung (WOLFF, GUTMANN & HüLSE) wissen wir aber, daß diese Symptome klare neurophysiologische Erklärungen in der Störung der Propriozeption der Kopfgelenke und den damit verbundenen Fehlinformationen an das Stammhirn und Innenohr, limbischen Cortex und Formatio reticularis haben.

Immer wieder erleben wir, daß Patienten nach manualtherapeutischer Intervention besser psychotherapiert werden können, konzentrationsfähiger sind, sich besser selbst wahrnehmen.

Wichtig ist es nur, den somatischen Ansatz – in unserem Falle den manualtherapeutischen Ansatz – nicht als alleinige Therapie stehen zu lassen oder sogar als eine Konkurrenzbehandlung zur Psychotherapie aufzubauen, wie es leider immer wieder geschieht. Wichtig ist es vielmehr, die funktionelle Läsion der Wirbelsäule als mögliche, manchmal zwangsläufige Folge einer
Lebensgeschichte bis hin zur aktuellen, vielleicht blockierungsau s lösenden und damit häufig schmerzauslösenden Problematik.

Es ist überraschend, wie viele Patienten diese Zusammenhänge erfühlen und auch verstehen können, im Gegensatz zu vielen ärztlichen Kollegen.

Manualtherapeutische Interventionen sollten die Bedeutung eines akut medizinisch somatischen Eingriffs haben bzw. den Sinn regulierend in ein entgleistes somato-psychisches oder psychosomatisches Geschehen einzugreifen, dessen langfristige Stabilisation über psychotherapeutische und bei längerem Bestehen auch krankengymnastische Therapien erreicht
werden sollen.

Manuelle Therapie darf vor allen Dingen keine Dauertherapie sein nach dem Motto: „Herr Dr., mein Atlas ist mal wieder heraus.“ Dann tritt eine Fixierung auf die angeblich somatische Lösung auf.

So werden auf Dauer neben der Therapieunwilligkeit im psychotherapeutischen Sinne erhebliche organische Störungen im Sinne segmentaler Lockerungen der Halswirbelsäule oder der Wirbelsäule hervorgerufen. Weichere Methoden, wie die kraniosakrale Technik, die Muskelenergietechnik, der myofasciale Release, die postisometrische Relaxationstechnik sind somatisch weit weniger traumatisierend.

Nach unseren Erfahrungen sind diese Techniken aber durch den längeren und damit intensiveren Körperkontakt des Behandlers zum Patienten auch mehr als Körperintervention wirksam, Hier sollte der Manualtherapeut sehr wohl registrieren, was in seinem Patienten vorgeht und ihm vielleicht später deutlichere Verschlechterung einbringt.

Die Beobachtung des Patienten, besonders seine Streß-, Flucht- und Abwehrreaktionen, müssen wichtiges Entscheidungskriterium für den funktionell tätigen Orthopäden sein und die Wahl seines therapeutischen Ansatzes bestimmen.

Jede Körperregion kann emotional stark vorbelastet sein. Sinnvoll ist es, bei Verdacht auf solche starken emotionalen Hintergründe ortsfern zu
arbeiten, z.B. bei Dysfunktionen des Beckenbereiches und Verdacht auf Mißbrauch unter Einbeziehung von Reflextherapien über die Beine und Füße, über die Halswirbelsäule mit kraniosakraler Technik, via Dura, oder auch über die Automobilisationstechniken, bei denen der Patient gar nicht angefaßt werden muß, sonst seine Dysfunktion selbst isometrisch mobilisiert.

Zusammenfassend möchte ich folgendes wiederholen:

1.) Orthopädische Diagnose und Therapie sollte mehr Rücksicht auf die Würde unserer Patienten nehmen, den Menschen als Mensch und nicht als Apparat behandeln.

2.) Psychosomatische Behandlung der Wirbelsäule sollte eine ausgewogene
therapeutische Mischung aus psychotherapeutischen und funktionell-orthopädischen Behandlungen sein.

3.) Wichtig ist es, sich der Doppelbedeutung an funktionell somatischen Verfahren im Sinne
der osteopathischen Mobilisation als auch der Körperintervention bewußt zu sein.
4.) Verschiedene Therapien, besonders somatische, müssen neben dem funktionellen Nutzen auch nach den Kriterien der Akzeptanz von Seiten des Patienten immer mehr beleuchtet, diskutiert und eventuell geändert werden.

5.) Funktionell orthopädische Techniken können nach unserer Ansicht bei gezieltem Gebrauch eine psychotherapeutische Behandlung begünstigen und erleichtern, nach unseren Beobachtungen eventuell auch erst ermöglichen.

6.) Monomane funktionell orthopädische Therapie kann keine lebensgeschichtlichen und konfliktbedingten Haltungs- und Funktionsdysbalancen ausgleichen. Monomane Psychotherapie wird keine chronischen funktionellen Störungen und chronischen Muskelfehlsteuerungen und -verkürzungen beeinflussen, sondern allenfalls deren subjektive Empfindung modulieren, das heißt die Schmerzempfindung beeinflussen, aber nicht die funktionell orthopädische Störung.

R.Sandweg (Hrsg.)

Psychosomatik der Wirbelsäule

Ergebnisse der gleichnamigen Tagung in der Fachklinik für psychogene Erkrankungen, Blieskastel

13. – 14. November 1992

Psychosomatik der Wirbelsäule

Psychosomatik und funktionelle Orthopädie
aus dem Arbeitskreis für Psycho-Orthopädie der Klinik für Manuelle Therapie in Hamm.
Klaus Helling

Auf der Fachtagung zum Thema: „Psychosomatik der Wirbelsäule“ spreche ich als Vertreter einer Klinik, die sich primär mit der somatischen Seite der Beschwerden des Bewegungssystems beschäftigt und sich selbst als funktionelle oder konservative Orthopädie bezeichnet. Die Klinik wurde 1963 gegründet mit dem Auftrag, manuelle Therapie oder Chirotherapie unter klinischen Bedingungen zu erproben und zu erforschen. So hat sich die Klinik im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte mit den verschiedenen Strömungen der manuellen Therapie auseinander gesetzt. Neben den funktionell orthopädischen Methoden haben sowohl die Rheumatologie als auch die Reflextherapie entscheidende Bedeutung für das therapeutische Konzept und seit 1981 kamen psychotherapeutische Verfahren, besonders körperorientierte psychotherapeutische Verfahren dazu.

Ich will zu Anfang dieses Referates noch eine Trennung zwischen somatischer, psychischer und psychosomatischer Medizin ziehen. Im somatischen Bereich arbeiten wir mit manualtherapeutischen Techniken im medizinisch schulmäßigen Sinne, wie von der DGMM gelehrt, aber auch mit moderneren Verfahren,

wie Muskelenergietechniken,
Kraniosakraler Therapie,
postisometrischen Muskelrelaxationen,
Facillationstechniken und
Myofascial Release.

In unserem Haus werden verschiedene krankengymnastische Schulen vereint, außerdem ist ein ausgebreitetes physiotherapeutisches Angebot vorhanden, das gesamte Spektrum der Lokal- und therapeutischen Leitungsanaesthesie, der Neuraltherapie, der Körperakupunktur, aber auch der Aurikulotherapie nach NOGIER & BAHR.

Im psychotherapeutischen Bereich werden Einzel- und Gruppentherapie angeboten, tiefenpsychologisch fundierte Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie, Gestalttherapie und progressive Muskelentspannung nach JACOBSEN. Einige Kollegen verfügen über Erfahrungen mit Bioenergetik. Das größte Problem in den letzten Jahren war es, die verschiedenen Ansätze zu integrieren und auch den Mitarbeitern der Klinik ausreichend verständlich zu machen.

Die Patienten der Klinik haben im Durchschnitt seit 8 und mehr Jahren Beschwerden und sind nur zu einem kleineren Prozentsatz von ca. 15-20% sogenannte Akutpatienten, die, soweit wir sie nicht über unsere Ambulanzen behandeln können, als Akutfälle aufgenommen werden.

Als Manualtherapeuten wissen wir seit Jahrzehnten, daß orthopädische Krankheitsbilder nicht durch statische oder biomechanische Befunde allein erklärt werden können. Somit tragen auch die Routineverfahren, wie Röntgen, Computertomogramm, Kernspintomogramm und Szintigraphie, in vielen Fällen nichts wesentliches zur Diagnostik bei, sondern bilden häufig nur ein unzureichendes auf Röntgenbefunde beruhendes Erklärungsgerüst für einen letztendlich ungeklärten Schmerz des Patienten.

Diese Divergenz, hier die Schmerzäußerung des Patienten, da das organisch begründete Erklärungsmodell von Seiten des Orthopäden, macht häufig das für den Patienten tragische Mißverständnis dieser medizinischen Disziplinen aus. Wie wir seit Jahren durch die Schmerzforschung wissen, können Schmerz und körperlicher Defekt zwei völlig verschiedene Dinge sein.

Es kommt zu den widersprüchlichsten Interpretationen, so daß wir häufig junge Menschen untersuchen, deren Schmerz mit Verschleiß erklärt wurde, „mit dem sie zu leben hätten“, und kurze Zeit später Patienten mit ausgeprägt degenerativen Veränderungen, denen man in Rentenoder
Unfallgutachten „natürlichen Verschleiß ohne pathologische Bedeutung attestiert hatte“.

Durch diese Widersprüchlichkeiten, die chronische Schmerzpatienten häufig, erfahren haben, sind bereits die ersten Irritationen zwischen Patient und Arzt in den Therapieerfahrungen entstanden.
Darüber hinaus muß neben diesem generellen Mißverständnis, – der Patient meint Schmerz, der Arzt die vermeintliche Ursache-, bedacht werden, daß in orthopädischen Praxen und Kliniken die Untersuchungen der Patienten kaum mehr als 5 Minuten dauern und damit völlig unzureichend sind.

Ein anderer Zeitraum ist bei ca. 150 Patienten täglich nicht möglich. So wird das Vertrauen des Patienten in seinen Arzt getrübt und mit Recht wird auch vielen orthopädischen Diagnosen mißtraut.

Diese Irritationen erschüttern viele Schmerzpatienten spätestens dann, wenn sie nach einiger Zeit der Therapieresistenz neurologisch-psychiatrischen Kollegen vorgestellt werden. Dann passiert häufig, was ein Patient so benannte: „Mir wurde nach 15 Minuten Gespräch gesagt, wer ich bin,
wo mein Problem liegt, was ich zu tun habe und dann wurde ich mit einem Rezept über drei Medikamente entlassen, die mich nur müde machten“.

Wer sich in diesen, etwas verkürzten Werdegang des chronischen Schmerzpatienten eindenkt, kann verstehen, warum der Schmerzpatient in der Regel auch ein mißtrauischer, verunsicherter,
ängstlicher und letztendlich auch durch uns Ärzte zutiefst gekränkter Mensch ist, dessen Grundverletzung wir so möglicherweise unbewußt immer wieder auffrischen und vertiefen.

Nun zurück zu unserem Thema.

Psychosomatik der Wirbelsäulenerkrankung

Wir haben in unserem Arbeitskreis verglichen, was verschiedene Schulen lehren und wie sie den Begriff Psychosomatik definieren. Es gibt keine Einheitlichkeit und letztendlich keine ausreichende Definition. Auffallend war jedoch, daß Psychosomatik oft heißt, und ich sage das nicht abwertend, sondern nur mit einem gewissen Bedauern, daß fast aus- schließlich psychotherapeutisch behandelt wird.

Man geht davon aus, daß organisch nichts oder nichts mehr diagnostiziert werden kann und somatische Verfahren versucht und erfolglos abgebrochen wurden. Diese Beobachtung wurde sowohl durch die Schilderung des Leidensweges vieler Patienten als auch durch Auswertung von 30 Fragebögen, an verschiedene psychosomatische Einrichtungen im Bundesgebiet bestätigt.
Hier muß man zu der Erkenntnis kommen, daß in vielen psychosomatischen Häusern mit dem Wort Psychosomatik der Teil – „Somatik“ – sehr klein geschrieben wird. Eine Tatsache, die ich nicht gutheißen kann.

Als äußerst störend empfinde ich bei der Behandlung psychosomatischer Patienten die Reihenfolge der Behandlungen. Es kristallisierte sich bei einer Umfrage eine deutliche Priorität der Methoden heraus. Bei vielen Kollegen sieht es so aus, als ob eine somatische Therapie für den Patienten ehrenhafter und zumutbarer ist, bevor man ihn – und da zitiere ich einen Kollegen – „mit dem Stigma des psychisch kranken Patienten belastet“ . Psychotherapie wird „gnädig‘ bis zuletzt zurückgehalten, dafür aber somatische Therapien bis hin zu heroischen chirurgischen Eingriffen zugemutet.

Psychotherapie kommt zwangsläufig irgendwann auf den sogenannten „Problempatienten“ zu. Die Bezeichnung „Problempatient“ – ich sage das etwas ironisch – heißt oft, daß es der Arzt ist, der die Probleme mit dem Patienten hat und letztlich beschließt, sein Problem bzw. seine Frustration, beim Patienten psychotherapieren zu lassen.

Warum nicht frühzeitiger Einsatz von Psychotherapie? Ich denke, daß neben Gründen der Praktikabilität besonders auch Probleme der Ärzte mit der Psyche hinderlich im Wege stehen. Ärzte, mit einer im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich gesenkten Lebenserwartung, setzen als typische Psychosomatiker sich selbst auf die sogenannte gesunde Seite und werden mangels Selbsterfahrung und Bewußtsein im Umgang mit den eigenen Konflikten, Überlastungen und Ängsten für diese Seite der Medizin sozusagen betriebsblind sein. Psychotherapie oder psychosomatische Behandlung findet erst statt, nachdem keine somatische Diagnose gestellt werden kann oder keine genügende somatische Begründung gefunden wird oder alle somatischen Therapien und Aktivitäten erfolglos bleiben: Hier fällt eine große Hilflosigkeit in der Orthopädie
auf! Aber leider auch sehr wenig Wille nach wirklichem Verstehen und Erfassen der krankmachenden Hintergründe. Oft will man von orthopädischer Seite, wenn man sich schon mit der Psyche beschäftigen muß, reine Kochrezepte anstatt Verständnis.

Denn Verständnis setzt mehr Wissen voraus, aber das Wissen gehört in die andere Disziplin, in die der Psychotherapie. So überraschen Fragen nicht, wie ich sie auf Neuroorthopädie-Kongressen immer wieder höre – zum Beispiel: „Wenn bei ausreichender Therapie noch Schmerz nach 3 Monaten besteht, kann man dann sagen, daß das psychisch ist und Psychopharmaka geben?“ Oder – wenn ich den Rat eines bekannten orthopädischen Gutachters höre: „Richtige“ – ich wiederhole – „richtige Krankheiten sprechen oft auf Analgetika an, die anderen auf Psychopharmaka“. Solche Ratschläge werden als Testhilfe mitgegeben, für meine Begriffe mit verheerenden Folgen.

Und meint der Kollege wirklich die Krankheit, die er mit Analgetika oder Psychopharmaka verändert oder nur verschiedene Wege, die Einfluß nehmen auf den neurophysiologischen Weg der Schmerzentstehung vom Defekt zum Bewußtsein?

Und was heißt Psychotherapie bei Fehlen somatischer Befunde und (oder) therapie-resistentem Verhalten? Gibt es das überhaupt, den fehlenden somatischen Befund? Oder ist der fehlende somatische Befund nur Ausdruck eines zu groben Untersuchungsrasters und mangelnder Zeit und unzureichender Ausbildung?

Geht man diesen Gedanken nach mit den Möglichkeiten der modernen Möglichkeiten Orthopädie – besonders der manuellen Therapie und Reflexdiagnostik, wird man sehr schnell erkennen, dass die üblichen Untersuchungen völlig unzureichend sind. Röntgen, Computertomogramm, Kernspintomogramm und die apparativen Diagnostiken ersetzen keine Untersuchung. Sie sind allenfalls Mosaiksteine in dem Gesamtbild des erkrankten menschlichen Organismus. Eine gründliche körperliche Untersuchung findet häufig nicht statt und führt fast immer zu pathologischem Befund.

Wir sind überrascht, wie viele Patienten irritiert sind, wenn wir sie bitten, sich für eine Untersuchung bis auf die Unterwäsche frei zu machen, und wenn die Patienten nach einer Untersuchung sagen, dass man sie so noch nie angeschaut hätte. Was wir dann aber „sehen“, ist nicht nur Statik und Mechanik, ist nicht nur Bewegungsapparat – um dieses Wort zu benutzen, der Mensch ist kein Apparat, kein Baukasten, bei dem stabilisiert und Gelenke geschmiert werden.

Was ich sehe, ist Haltung im biomechanischen Sinne, aber auch im psychomotorischen Sinne, als emotionaler Ausdruck. Ich sehe und fühle als Manualtherapeut gestörte Segmente der Wirbelsäule, gestörte Rippenfunktionen, verspannte, verkürzte und schmerzhafte Muskulatur, Triggerpunkte, verspanntes Bindegewebe, gestörte Funktionen, vegetative Fehlsteuerung. Ich kann diesen Befund monoman manualtherapeutisch als segmentale Störung der Wirbelsäule mit reflektorischer Muskelfehlsteuerung und vegetativer Dysbalance werten, aber auch als zwangsläufige Folge der zum Beispiel ständig verspannten Schultern oder der vielleicht angstvollen Hochatmung interpretieren.

So kann ich den emotionalen Ausdruck häufig auch dem Patienten nachfühlbar und nachvollziehbar machen. Ich sehe die Bewegungsabläufe des Patienten, sein Bewegungsmuster und die Bewegungsrhythmen, die seinen statischen Ausdruck eventuell verstärken und versuche auch hier sowohl den somatisch biomechanischen als auch den psychomotorisch emotionalen Ausdruck zu erfassen.

Ich habe als Somatiker oder sollte ich sagen Psychosomatiker oder Somatopsychlker die Chance, die vielen psychotherapeutischen Kollegen nicht in dieser Deutlichkeit gegeben ist. Ich kann mit dem Patienten auf einer averbalen Ebene kommunizieen. Ich kann Dinge erfahren, die ich vielleicht viel später erst zu hören bekäme. Ich versuche, seine Antworten wahrzunehmen, wenn ich ihn untersuche, seine Reaktionen auf meine Blicke, auf meine Stellung im Raum vor ihm oder hinter seinem Rücken, seine Antworten auf meine Berührung, seien sie vegetativ vasaler Art mit Schwitzen und roten Flecken, oder muskulärer Art mit Verspannung bis zur Erstarrung. Vielleicht auch seine Unfähigkeit, sich bei der Untersuchung zu entspannen, wenn ich hinter ihm stehe, während er die Untersuchung zulassen kann, wenn ich vor oder neben ihm stehe (z.B. bei einem Patienten, der von hinten überfallen wurde).

Ich sehe seine Flucht-, Angst- und Schmerzäußerung, ohne Berührung oder wenn ich ihn berühre, seine Reaktion bei aktiver und passiver Bewegung. Sind diese Beobachtungen im somatischen Sinne nichts wert? Sind selbst massive vegetative‘ Fehlsteuerungen kein Befund? Passen sie nicht ins orthopädisch mechanische Diagnoseraster des Bewegungsapparates einer Orthopädie, in das funktionelles Denken häufig noch sehr schwach entwickelt ist und operative Schwerpunkte dominieren? Wissen wir nicht, daß Funktion Form macht und Form Funktion, dass irgendwann persistierende funktionelle Störungen eventuell massive morphologische Veränderungen produzieren werden? Soll erst dann ein somatischer Befund existieren, wenn er irreversibel ist?

Diese, für meine Begriffe auch somatischen, aber funktionell somatischen, über das vegetative Nervensystem oder psychomotorisch ausgedrückten Befunde, entgehen zu oft den Orthopäden, dem psychotherapeutisch tätigen Arzt und leider auch dem Psychosomatiker.

Andere Schmerzketten, die nicht über die Motorik, sondern über viscero vertebrale Reflexe und Heads’che Zonen Schmerzen provozieren, sind zu wenig bekannt. Es muss nicht immer, nur weil es so schön logisch ist, „im Nacken sitzen“ und „auf den Schultern lasten“, es muss nicht immer die psychomotorische Blockierung eines Bewegungs- oder eines Handlungsvollzuges sein. Häufig ist das psychosomatische Bezugsorgan in ganz anderen Organbereichen zu suchen: Internistisch, gynäkologisch, urologisch usw..

Und dann wird die chronische Gastritis über Headsche Zonen ein therapieresistentes Schulter-Syndrom links produzieren, oder die Gallenblase eine schmerzhafte Schulter rechts. An dieser Stelle gehören neben orthopädisch-psychotherapeutischen auch internistisch-reflektorische Überlegungen und Therapieansätze in die psychosomatische Behandlung des Bewegungssystems.

Wie findet die Behandlung statt? Zunächst einige selbstkritische Gedanken.

Wichtig ist auch hier nicht nur, was wir an dem Menschen therapieren, sondern vor allen Dingen wie wir es tun. Ich sagte oben bereits, der Mensch ist kein Apparat, an dem gefühllos, ohne Beachtung seines Abwehr- und Schmerzverhaltens hantiert werden darf. Viele unserer Patienten schildern mir ihre Untersuchungs- und Behandlungserfahrungen, besonders bei Gutachten-Untersuchungen, wie Strafaktionen, bei denen ihre Schmerzäußerungen nicht beachtet oder grob zurückgewiesen wurden. Sie fühlen sich nicht beachtet, unwichtig, ohne echte Zuwendung durch den Arzt, nicht einmal in den 2 bis 5 Minuten, die er für sie Zeit hatte.

Sie fühlen sich beschämt und in ihrer Würde verletzt, wenn bei den Krankenhaus-Visiten ohne Fragen um Erlaubnis vor dem Begleittroß der Chefvisite die Bettdecke zur Begutachtung des Operationserfolges weggezogen wird, erinnern sich schmerzhaft an diese Szenen, selbst wenn es Jahre zurück in der Kindheit passierte und erzählten mir dieses Vorgehen, oder sollte ich sagen „Vergehen“, als ihre schlimmste Erinnerung, schlimmer als die Operation und waren in ihrer Scham tief verletzt. „Ich hätte vor Scham in den Boden versinken können“ erzählte mir eine Patientin, als sie hinkend, schmerzgeplagt und halbnackt bei der Orthopädietechnik-Vorstellung, wie sie sagte „vortanzen mußte“ vor einem großen Gremium. Die Patienten fühlen sich entmündigt, wenn bei den Visiten an der Bettkante über sie, anstatt mit ihnen gesprochen wird,
schlecht informiert, ja sogar feindselig von den Ärzten behandelt, denen sie keine positive Meldung über die Therapieversuche rückmelden können. Und was sind die nur gröbsten, eigentlich unvorstellbaren, dennoch leider täglichen und völlig unnötigen Verletzungen, die in orthopädischen Behandlungen den Patienten angetan werden. Die Verhinderung solcher Verstöße sollte mehr ein Problem des menschlichen Taktes als des medizinischen Konzeptes sein.

Nun gibt es auch noch eine weitere Ebene, auf der die Patienten erneut von uns Ärzten verletzt werden, häufig unbewußt und mit den besten Vorsätzen, ihnen helfen zu wollen. Die körperliche Behandlung gerade in der funktionellen Orthopädie und manuellen Medizin und Krankengymnastik hat auch immer die Bedeutung einer Körperintervention im psychotherapeutischen Sinne.

Durch die verschiedenen Behandlungspraktiken und Berührungen kann das Leibgedächtnis aktiviert werden, alte Erinnerungen und Erlebnisse werden neu belebt. Dann fließen vielleicht plötzlich Tränen. In solchen Fällen mache ich den Patienten deutlich, daß mir seine Tränen nicht entgangen sind, tiefe, aber erst später und nicht in der für den Patienten vielleicht peinlichen, da oft halb bekleideten Behandlungssituation. Solche durch körperliche Behandlungen erweckte emotionale Regungen sind sehr häufig und werden auch von unseren Krankengymnasten und Masseuren beobachtet und bei den regelmäßigen Teamsitzungen an uns Ärzte und die Therapeuten weitergeleitet. Sie bilden wichtige Anstöße für die weitere Therapie im psychotherapeutischen Bereich, wie auch im Bereich der somatischen Ansätze.

Wichtig für eine auch psychosomatisch ausgerichtete Orthopädie ist es, daß alle Schwestern, Krankengymnasten, Masseure, Ärzte mit solchen Situationen umzugehen verstehen, den Patienten stützen und nicht durch Zurückweisen oder bloßes Zerreden beschämen.

Wichtig ist es auch, die Reaktion der Patienten auf die verschiedenen Behandlungen zu beobachten. Oft will man dem Patienten nur Gutes tun und weiche Behandlungen, wie Lymphmassagen, Fußreflexmassagen, Wärme usw. anwenden und hört, daß die Behandlung dem Patienten überhaupt nicht bekommt, er nicht entspannen kann und sich sein Zustand verschlechtert.

Fürchtet der Patient in dieser Entspannung, der Wärme, der sanften Berührung, die Fassung und Kontrolle zu verlieren, den Damm vor seinen Tränen nicht stabil halten zu können? Oft kommen durch die Berührung alte Erinnerungen hoch, das Leibgedächtnis wird aktiviert.

Hier wird es Zeit zu überdenken, warum der Patient diese Reaktionen zeigt und eventuell muß die Therapie geändert werden. Vielleicht ist der Masseur mit den guten Händen auch dem Mann sehr ähnlich, der dem kleinen Mädchen irgendwann Gewalt antat. Dann liegt ein Therapeutenwechsel an und man muß auch den Mitarbeitern klar machen, daß ein Therapeutenwechsel für den Patienten wichtig ist und keine Mißkreditierung vorliegt. Sonst entstehen Spannung und Aggression gegen den Patienten. Es ist auch wichtig, darauf zu achten, daß weiße Kleidung bei allen somatisch tätigen Behandlern ein Schutzschild bilden können und für eine medizinische Sterilität und Funktionalisierung gerade auf der psychischen Ebene sorgen können.

Neben der orthopädisch manualtherapeutischen Behandlung in seiner Doppelbedeutung als somatisch funktionelle Mobilisation und auch als Körperintervention im psychotherapeutischen Sinne gibt es aber noch einige
ige interessante Beobachtungen, die ich als Manualtherapeut Ihnen mitteilen möchte und die für mich mit die spannendsten psychosomatischen Beobachtungen der letzten Jahre sind. Besonders nach Behandlung der Kopfgelenke mit kraniosakraler Technik, aber auch mit anderen Technken, hatte ich den Eindruck, daß oft Wege zu emotionalen Hintergründen freigelegt werden, die durch somatische Befunde regelrecht verschüttet waren und dem Patienten schlagartig nach Lösung der somatisch funktionellen Läsion bewußt werden.

Ich habe das Gefühl, daß diese Phänoene nicht allein über die Kette Körperintervention und, wenn man so will, Einfluß auf das Leibgedächtnis im gestalttherapeutischen Sinne erklärbar sind. Ich möchte an eine= Beispiel deutlich machen, was häufig passiert: ‚Ein Patient mittleren Alters, selbst erfahrener Psychotherapeut, leidet seit langer Zeit unter einem Tinnitus. Er selbst hat sich den Tinnitus auf Grund von psychischer Belastung erklärt und sich selbst therapieren lassen, einschließlich körperorientierter Psychotherapie, Gestalttherapie und Bewegungstherapie. Im Hinblick auf die Therapie des Tinnitus bestand daher bei mir zunächst ziemliche Ratlosigkeit. In der manuellen Medizin wird bei Kopfgelenksstörungen zwar häufig als Symptom ein Tinnitus beschrieben, aber in der manualtherapeutischen Lite-ratur und auch nach unseren Erfahrungen liegen die Besserungschancen im Gegensatz zu Schwindel, Kopfschmerz, für den Tinnitus maximal bei 5 %, also im Bereich des Zufalls. Das gilt allerdings für Impulstechniken. Wir sehen Tinnitus nahezu immer im psychosomatischen Zusammenhang. Ich untersuchte den Patienten gründlich, auch mit der für uns noch sehr jungen kranio-sakralen Technik, stellte damit eine Blockierung des Os temporale und der Kondyle C 0/1 fest. Ich behandelte den Patienten mit kraniosakraler Technik, arbeitete mit minimalen Traktionen, die man im Prinzip einer zarten Körperintervention gleichsetzen kann.

Nach einer Behandlungsdauer von ca. 10 Minuten kam es bei dem Patienten zu einer schlagartigen Veränderung des pathologischen kranio-sakralen Rhythmus, es kam zu einer Harmonisierung, der Rhythmus hatte sich durch die Mobilisation normalisiert, es war zum sogenannten Re-lease gekommen. Gleichzeitig und wirklich auf die Sekunde seufzte der Patient tief, ihm traten Tränen in die Augen und auf meine Frage: „Wo sind Sie jetzt?“ kam seine Antwort: „Nicht mehr kämpfen! “ Der Tinnitus war für mehrere Stunden verschwunden, verstummt. Solche Phänomene werden von vielen kranio-sakralen Therapeuten in USA beschrieben, ohne daß danach eine psychologische Aufarbeitung vorgenommen wurde.

Wir diskutierten nachher über das, was vorgefallen war und der Patient drückte sein Unverständnis aus über das, was passiert war. Er sagte: „Ich kann das nicht verstehen! In der Therapie, aus der ich gerade komme, ist mein Kopf auch gehalten worden, aber ohne diesen Effekt! “ Ich denke, und wir konnten das bei anderen Fällen wiederum verfolgen, daß es eben nicht nur um die Körperintervention geht und haben eine andere Hypothese, an der wir z.Zt.
wissenschaftlich arbeiten. Möglicherweise wird das Emotionale wirklich in der gestörten Funktion festgehalten und verdeckt und erst durch die Behebung der pathologischen Läsion unmittelbar erinnerlich. Ähnliche Phänomene erleben wir auch bei den osteopathischen Zwerchfellmobilisationen.

Ich kenne die Kritik an der Orthopädie und manuellen Medizin von Seiten der
psychotherapeutisch ausgerichteten Ärzte. Sie sagen häufig, daß mit diesen Techniken die Patienten auf die somatische Ebene fixiert werden. Ich habe aber auch meine Kritik an den nur psychotherapeutisch ausgerichteten Ärzten, die in dem Irrglauben leben, somatisch sei alles getan und abgeklärt, somatisch sei nichts mehr zu machen. Es findet in zu vielen psychosomatischen
Kliniken kein Austausch der Beobachtung statt, es findet keine somatische Behandlung statt, sondern nur ein Konsiliar mit Orthopäden und Internisten, die aber die Beobachtungen, die vom Somatischen auch auf das Emotionale schließen lassen, nicht deuten können. Dadurch geht eine große Informationsquelle verloren. Die oben beschriebenen Beobachtungen werden in der Regel nie diagnostiziert, sondern allenfalls als vegetative Fehlsteuerung pauschal beschrieben und meistens nicht einmal das.

Ich weiß, daß das nicht die Norm ist, aber ich kenne auch die Patienten, die mit heftigen Kopfschmerzen bei Kopfgelenkblockierungen sich in psychotherapeutischen Sitzungen mit der Frage plagen, was sie von der Krankheit profitieren, was ihnen die Krankheit bringt, und die sich mit dieser Frage auseinandersetzen sollen.

Es gibt auch Patienten, die sich mit solchen funktionellen Störungen als zu Recht denkunfähig bezeichnen. Sie haben das Gefühl, ihr Kopf platze, das Gefühl, der Kopf sei leer, das Gefühl, er sei nicht durchblutet, wie abgeschnitten. Dazu kommen bei diesen Funktionsstörungen massive muskuläre und vegetative Störungen, häufig auch Schwindei, Ohrgeräusche, Sehstörungen, Konzentrationsstörungen, motorische Störungen. Dank der manualtherapeutischen und neurophysiologischen Grundlagenforschung (WOLFF, GUTMANN & HüLSE) wissen wir aber, daß diese Symptome klare neurophysiologische Erklärungen in der Störung der Propriozeption der Kopfgelenke und den damit verbundenen Fehlinformationen an das Stammhirn und Innenohr, limbischen Cortex und Formatio reticularis haben.

Immer wieder erleben wir, daß Patienten nach manualtherapeutischer Intervention besser psychotherapiert werden können, konzentrationsfähiger sind, sich besser selbst wahrnehmen.

Wichtig ist es nur, den somatischen Ansatz – in unserem Falle den manualtherapeutischen Ansatz – nicht als alleinige Therapie stehen zu lassen oder sogar als eine Konkurrenzbehandlung zur Psychotherapie aufzubauen, wie es leider immer wieder geschieht. Wichtig ist es vielmehr, die funktionelle Läsion der Wirbelsäule als mögliche, manchmal zwangsläufige Folge einer
Lebensgeschichte bis hin zur aktuellen, vielleicht blockierungsau s lösenden und damit häufig schmerzauslösenden Problematik.

Es ist überraschend, wie viele Patienten diese Zusammenhänge erfühlen und auch verstehen können, im Gegensatz zu vielen ärztlichen Kollegen.

Manualtherapeutische Interventionen sollten die Bedeutung eines akut medizinisch somatischen Eingriffs haben bzw. den Sinn regulierend in ein entgleistes somato-psychisches oder psychosomatisches Geschehen einzugreifen, dessen langfristige Stabilisation über psychotherapeutische und bei längerem Bestehen auch krankengymnastische Therapien erreicht
werden sollen.

Manuelle Therapie darf vor allen Dingen keine Dauertherapie sein nach dem Motto: „Herr Dr., mein Atlas ist mal wieder heraus.“ Dann tritt eine Fixierung auf die angeblich somatische Lösung auf.

So werden auf Dauer neben der Therapieunwilligkeit im psychotherapeutischen Sinne erhebliche organische Störungen im Sinne segmentaler Lockerungen der Halswirbelsäule oder der Wirbelsäule hervorgerufen. Weichere Methoden, wie die kraniosakrale Technik, die Muskelenergietechnik, der myofasciale Release, die postisometrische Relaxationstechnik sind somatisch weit weniger traumatisierend.

Nach unseren Erfahrungen sind diese Techniken aber durch den längeren und damit intensiveren Körperkontakt des Behandlers zum Patienten auch mehr als Körperintervention wirksam, Hier sollte der Manualtherapeut sehr wohl registrieren, was in seinem Patienten vorgeht und ihm vielleicht später deutlichere Verschlechterung einbringt.

Die Beobachtung des Patienten, besonders seine Streß-, Flucht- und Abwehrreaktionen, müssen wichtiges Entscheidungskriterium für den funktionell tätigen Orthopäden sein und die Wahl seines therapeutischen Ansatzes bestimmen.

Jede Körperregion kann emotional stark vorbelastet sein. Sinnvoll ist es, bei Verdacht auf solche starken emotionalen Hintergründe ortsfern zu
arbeiten, z.B. bei Dysfunktionen des Beckenbereiches und Verdacht auf Mißbrauch unter Einbeziehung von Reflextherapien über die Beine und Füße, über die Halswirbelsäule mit kraniosakraler Technik, via Dura, oder auch über die Automobilisationstechniken, bei denen der Patient gar nicht angefaßt werden muß, sonst seine Dysfunktion selbst isometrisch mobilisiert.

Zusammenfassend möchte ich folgendes wiederholen:

1.) Orthopädische Diagnose und Therapie sollte mehr Rücksicht auf die Würde unserer Patienten nehmen, den Menschen als Mensch und nicht als Apparat behandeln.

2.) Psychosomatische Behandlung der Wirbelsäule sollte eine ausgewogene
therapeutische Mischung aus psychotherapeutischen und funktionell-orthopädischen Behandlungen sein.

3.) Wichtig ist es, sich der Doppelbedeutung an funktionell somatischen Verfahren im Sinne
der osteopathischen Mobilisation als auch der Körperintervention bewußt zu sein.
4.) Verschiedene Therapien, besonders somatische, müssen neben dem funktionellen Nutzen auch nach den Kriterien der Akzeptanz von Seiten des Patienten immer mehr beleuchtet, diskutiert und eventuell geändert werden.

5.) Funktionell orthopädische Techniken können nach unserer Ansicht bei gezieltem Gebrauch eine psychotherapeutische Behandlung begünstigen und erleichtern, nach unseren Beobachtungen eventuell auch erst ermöglichen.

6.) Monomane funktionell orthopädische Therapie kann keine lebensgeschichtlichen und konfliktbedingten Haltungs- und Funktionsdysbalancen ausgleichen. Monomane Psychotherapie wird keine chronischen funktionellen Störungen und chronischen Muskelfehlsteuerungen und -verkürzungen beeinflussen, sondern allenfalls deren subjektive Empfindung modulieren, das heißt die Schmerzempfindung beeinflussen, aber nicht die funktionell orthopädische Störung.

R.Sandweg (Hrsg.)

Psychosomatik der Wirbelsäule

Ergebnisse der gleichnamigen Tagung in der Fachklinik für psychogene Erkrankungen, Blieskastel

13. – 14. November 1992